Dimitri Lehner
· 11.05.2023
Eine Woche Zeit, hungrig nach Sonne, Meer und ein wenig Abenteuer – die griechische Insel Lefkas scheint für unsere Alltagsflucht ideal. Vom Massentourismus verschont, eine Küste gesäumt von Sandstränden und 100 Kilometer Paddelstrecke, um sie zu umrunden – also nix wie hin!
Wir stecken im Morast. Nix geht mehr. Selbst die Flamingos gucken betreten. Sie fremdschämen sich für die zwei Anfänger, die im Schlick der Lagune stecken. Die Vögel machen nicht einmal Anstalten, wegzufliegen, dabei stehen sie zum Greifen nahe im Wasser wie rosa Pilze.
Unsere Idee schien pfiffig: Shortcut statt Umweg – durch die Lagune von Lefkada statt auf der Schifffahrtsstraße drum herum. Doch die Wassertiefe schrumpfte unter unseren Boards. Erst steh’ ich mittig auf dem 12’6er, dann vorne, am Schluss turne ich auf der Nase rum, damit sich die Finne hebt. Doch irgendwann bringt auch das nix mehr. Ich hänge im Schlamm. Mein Bruder und Paddel-Partner Laurin ebenso. Wir schauen uns an, grinsen dämlich. Laurin steigt vom Board und versinkt bis zum Bauchnabel im Schmodder. Es blubbert und stinkt, gluckert und gluckst. So wälzen, schieben, mühen wir uns dem Schilfgürtel des Ufers entgegen, die Boards im Schlepp. Fango-Massage für Fortgeschrittene. Aber hey: Die Sonne scheint, wir sind dem deutschen Schmuddel-Herbst entflohen, vor uns liegt eine Woche Paddelspaß – da suhle ich mich gern im Schlamm, der mir in graublauen Schlieren über den Körper rinnt.
Die griechische Insel Lefkas scheint für unsere Sonnenflucht ideal: 35 Kilometer lang, 15 breit, mit schmucken Nachbarinseln bestückt. Massentourismus wie auf Kreta soll es hier nicht geben, stattdessen eine wilde Westküste mit viel Sandstrand und eine geschützte Ostküste mit Olivenhainen und verschlafenen Fischerdörfern. Und das Klima! Von April bis Oktober Sommer, der Rest: Frühling!
Viel mehr wissen wir nicht über unser Ziel; wollen wir auch nicht! Unser Motto: selbst entdecken, was sich hinter der nächsten Landzunge versteckt. Ohne Wikipedia, Google Earth und 1000 Bildern im Kopf.
Das hat auch Nachteile. Zum Beispiel wissen wir nicht, dass sich auf Lefkas vor 100.000 Jahren schon Neandertaler rumtrieben (Funde von Steinklingen beweisen es) und im Hafenbecken, das wir gerade kreuzten, vor 1000 Jahren die Flotte der Byzantiner ankerte. Oder dass Homer vor 2700 Jahren sogar seinen Odysseus nach Lefkas dichtete – der griechische Held fand am Kap Doukato das Tor zu Unterwelt. In zwei Tagen wollen wir das Höllenkap erreichen.
Wichtiger als Reiseführer-Wissen ist ein Glücksengel. Unserer heißt Maria. Eine Endvierzigerin mit Lockenkopf und strahlenden Augen. Mein Freund Gammo gab mir den Kontakt mit dem Hinweis, dass wir bei Maria sicher unsere SUP-Packtaschen deponieren könnten, wenn wir lieb fragten. Das ist auf jeder Paddeltour ein kritischer Aspekt: Wo den Krempel lassen, den man auf der Tour nicht braucht? Denn aufs Board kommt nur das Allernötigste: Schlafsack, Taucherbrille, Taschenmesser, Stirnlampe zum Beispiel, verstaut in wasserdichten Säcken. Maria betreibt den Yachtcharter IYC im Hafen von Lefkada und ist so süß, dass wir sie umarmen wollen. Sie drückt uns eine Karte in die Hand, markiert mit schnellen Kulistrichen die Must-Sees und will uns sogar mit dem Auto zum besten Startpunkt bringen. Nein, Maria, nicht nötig!
Doch nötig, wie wir jetzt wissen. Schlammverschmiert erreichen wir den Landstreifen, der die Lagune vom Meer trennt, buckeln die Boards, queren einen Sandstrand und stechen in See. Vor uns liegt die lange Westküste mit Klippen aus schneeweißem Muschelkalk. Wind schlägt uns ins Gesicht, wenn wir nach rechts schauen. Gut, dass wir nach links müssen. Wind, Wind, himmlisches Kind. Hässliches Kind! Zumindest für alle Paddler. Nichts kann einem den Spaß so versauen wie Wind. Am Gepäckband im Flughafen Preveza trafen wir Andrea, eine Regatta-Seglerin aus Regensburg. Sie lobte den „Meister-Wind“, den Maestro. „Er weht auf Lefkas besonders stark“, sagte Andrea und klatschte in die Hände. Wir fletschten die Zähne. „Nee, den Maestro brauchen wir nicht!“, sagten wir. Sie lachte. Wir lachten nicht.
Doch der Maestro kommt aus Norden, wir wollen nach Süden. Glück gehabt! Wir rutschen die Küste runter. Leichtes Paddeln, denn der Wind schiebt. Am Ende der Nikitas-Bucht knurrt der Magen und wir richten die Bordnasen auf ein Fischerdorf: weiße Häuser, eine Hafenmauer, Boote schaukeln davor. Jason Statham fängt uns ein. Glatze, kantiges Kinn, hypertrophierte Nackenmuskeln, T-Shirt ohne Ärmel – der Kellner des Fischrestaurants sieht aus wie der Action-Hero aus UK. Er erspäht uns, als wir hungrig in der Hafengasse stehen, und wickelt uns um den Finger. Wir lassen uns willig wickeln, freuen uns über seinen gegrillten Seebarsch und kaltes Bier, während die Sonne im Meer versinkt.
In der ersten Nacht bin ich noch lax mit der Wahl des Schlafplatzes – wir paddeln im Schein unserer Stirnlampen einfach zum nächsten Strand und legen uns in den Kies – doch sonst ist es mir furchtbar wichtig, wo wir schlafen. Ich will den schönsten Platz! Menschenleer, mit gutem Vibe und genügend Schwemmholz für ein Lagerfeuer. In der zweiten Nacht finden wir die Nummer eins unter allen Schlafplätzen am Egremni Beach. Nur ein paar Serpentinenstraßen durchziehen hier das Hinterland, und an ganz wenigen Stellen führen Treppen die Klippen hinunter zum Meer. Wir fühlen uns wie Tom Hanks in „Cast Away“: niemand da! Nur wir, der Strand und das blaue Meer. Wir haben alles dabei, was wir brauchen, und wir brauchen wenig: Oliven, Käse, Apfelschnitze, eine Flasche Rotwein und ein Feuer. Das reicht zum Glücklichsein.
Eine SUP-Tour ist der Gegenentwurf zum Leben daheim. Statt Netflix gucken, Tinder checken, E-Mail-Flut und Zoom-Meetings – paddeln. Und schauen. Und atmen. Und baden. Das Meer ist hier so betörend blau, dass ich immer wieder vom Board springe und mich in die Tiefe sinken lasse. Wie ein Fallschirmspringer, denn das Wasser ist klar wie Luft. So schieben wir der Hektik zu Hause einen Riegel vor. Kein Jonglieren mit To-do-Listen. Kein Multiple-Tasking. Dafür: Single-Tasking – wir paddeln um die Insel und lassen alles auf uns zukommen. Im Wortsinn.
Am dritten Tag erreichen wir das steinerne Ende von Lefkas. Hier vom Felsenkap stürzte sich 570 v. Chr. die Adelige Sappho in den Tod, glaubt man der Legende. Sappho gilt als wichtigste Lyrikerin des klassischen Altertums. Ironie des Schicksals: In ihren Dichtungen ging es um Erotik, doch sie fiel der romantischen Liebe zum Opfer. Sappho verliebte sich in einen Fährmann, doch der Schiffer wollte von ihr nichts wissen. Das brach der smarten Griechin das Herz, und sie sprang von den Klippen. Wir legen am Kap Doukato die Köpfe in den Nacken und schauen nach oben, dann zu den Felsen im Meer ganz unten und gruseln uns. Das Kap verschwindet und wir queren die Vasiliki-Bucht.
Weit draußen nimmt uns ein Katamaran unter Schweizer Flagge ins Visier. Die Besatzung beugt sich über die Reling. Alle glotzen; der Skipper ruft:
„Braucht ihr Hilfe?“ - Ich rufe zurück: „Nee! Braucht ihr Hilfe?“
Sie lachen, wir lachen und schon rauscht der Katamaran vorbei, unter hohen, weißen Segeln, und wir bleiben im Kielwasser zurück.
Die Ostseite Lefkas ist ein Paradies für Chartersegler, denn das Meer gleicht hier einem See. Fjorde, Buchten, Inseln und das griechische Festland in Sichtweite. Zieht ein Sturm auf, können die Segler schnell in eine Marina flüchten. Dadurch wird das Revier auch interessant für alle Einsteiger ins Touren-Paddeln. Hier muss man sich nicht stressen mit hohen Wellen, Strömungen und der Gefahr, aufs offene Meer geblasen zu werden.
„Wo müssen wir hin?“ Inmitten der Bucht irritiert uns das Gewirr aus Höhenzügen vorm Bug. Immer wieder legen wir die Paddel weg, rutschen mit den Boards zusammen, falten die Karte auf, mutmaßen, glauben zu wissen, wo unser Ziel liegt, falten die Karte wieder ein, um sie im nächsten Moment wieder aus dem Sack zu holen.
Wir lassen Lefkas links liegen und nehmen Kurs auf die Nachbarinsel Meganisi – ein heller Streifen vor uns.
Paddeln hat was Meditatives. Besonders, wenn man stundenlang paddelt. Für mich ist es ein bisschen wie Gleitschirmfliegen: Start und Landung machen Spaß, doch dazwischen kann’s dröge werden. Selbst mit Wind im Rücken kommen die 12’6er-Inflatables nicht ins Gleiten: Will man Windwellen reiten, muss man paddeln, dass die Adern platzen. Sooo anstrengend. Zu anstrengend! Wir lassen den Windswell unter uns durchrollen; auf der Ostseite Lefkas verschwinden die Wellen ohnehin. Oft paddeln wir nebeneinander, quatschen, philosophieren übers Leben, albern rum. Dann sucht sich jeder wieder seinen eigenen Kurs, sein eigenes Tempo, hängt Gedanken nach oder noch besser: denkt nichts, genießt die Sonne auf der Haut und den Blick aufs Meer.
Glaubt man der Wissenschaft, wirkt das Meer wie Antidepressiva. Ich spüre es. Die dunklen Gedankenwolken verpuffen, meine Stirn glättet sich, die latente Angespanntheit, die mich im Alltag quält, fällt ab. Und das, obwohl wir jetzt mit Seitenwind paddeln, die übelste Windvariante, weil sie den Bug ständig aus dem Kurs drückt.
Daher freuen wir uns später über den wässrigen Cappuccino am Agrios Beach. Ein schlecht gelaunter Barkeeper in Flecktarnjacke schiebt uns die Tassen unter die Nase, um danach die Klos abzuschließen. Die Nebensaison hat nicht nur Vorteile. Am Nachbartisch schlürfen Christian und Imke aus Bonn ihren üblen Cappuccino, verziehen das Gesicht und schauen zu uns rüber, um zu solidarisieren. Christian und Imke sind Seekajakfahrer, auch sie vom Wind k. o. Als er abflaut und wir weiterziehen, will uns Christian unbedingt zeigen, dass er irgendwie ja doch SUPler ist. Er stemmt sich aus dem Sitz seines Kajaks. Es schwankt und wankt. Da steht er, mit zitternden Knien, greift das Doppelpaddel am Blatt und versucht zu paddeln. Wir applaudieren, können uns das Lachen aber nicht verkneifen. Super, Christian!
Die Schluss-Etappe führt durchs Nadelöhr. Im Nordosten verengt sich das Meer zum Kanal zurück nach Lefkada. Auch viele Charter-Segler streben heim. Wir reihen uns ein in ihren Konvoi, und es wird uns schwer ums Herz.
Die Inselumrundung ist zu Ende.
Herrlich! Doch vorbei!
Am letzten Abend drückt uns Glücksengel Maria den Bordschlüssel für eine Segelyacht in die Hand. Statt am Airport rumzulungern, sitzen wir im Cockpit einer Jeanneau 34, entkorken Rotwein und schauen in den Sternenhimmel. Während ich über unseren Trip sinniere, schmiedet Laurin schon Pläne.
Laurin: „Wie wär’s mit Formentera als Nächstes? Oder den Liparischen Inseln? Zakynthos wäre cool. Was meinst du?“ Ich: „Super, ich bin dabei!“